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Eisblumen am Fenster mit eingefrorenem Klo 1992 kam ich als Wessi in die ehemalige DDR, wo es damals noch nicht viele wie mich gab. Das Misstrauen, das man ihnen entgegenbrachte, war deutlich spürbar. Leipzig liegt nur 200 Kilometer nördlich und kaum östlicher als meine Heimatstadt Lichtenfels in Oberfranken, zu DDR-Zeiten eine Grenzstadt im Westen. Die geografische Entfernung der beiden Städte ist gering, die kulturelle Spannweite Leipzigs aber schien sich mir weit in den Osten auszudehnen, bis hin nach Russland. Leipzig lag für mich im Ausland. Viele Ostdeutsche waren der Ansicht, dass sich Wessis in fremde Angelegenheiten mischten. Oft galten sie als wichtigtuerisch oder korrupt, hatten doch einige krumme Sachen gedreht oder Wohnungseigentümer über den Tisch gezogen. Ich war bemüht, mich bescheiden und auf keinen Fall arrogant zu geben. Am Institut für Kunstpädagogik mussten Professoren wegen Staatsnähe – ob zu Recht oder Unrecht – reihenweise gehen. Malerei galt in den neunziger Jahren als Tabu, Medienkunst war angesagt. Maler waren out! Natürlich haben Neo Rauch und auch Gero Künzel, mein Professor und ein expressiver figurativer Maler, trotzdem gemalt, wie andere auch. Künzel, wiederum Meisterschüler von Bernhard Heisig, verabscheute den sozialistischen Realismus.
Die Zeit in Leipzig war aufregend: Kurz vor der Wende starteten die Montagsdemonstrationen von der evangelischen Nikolaikirche aus in die Stadt, die eine friedliche Revolution einläuteten. Größten Respekt hatte ich vor den vielen Menschen und Freunden, die sich nicht einschüchtern ließen und mitmarschierten. Nie habe ich sie auf das Unrechtsregime angesprochen. Nie kam dieser Begriff, auch nur ansatzweise, über deren Lippen. Früh wurde ein Stasimuseum eingerichtet, in dem man Einsicht in die eigenen Stasiakten nehmen konnte. Mein erstes Zimmer teilte ich mit meiner Studienkollegin Solvejg im Wohnheim, einem Ensemble aus drei Plattenbauten. Unser Zimmer mit Stockbett war winzig, die Fenster waren riesig – der Ausblick über die Stadt mit dem „Buch“, das hohe Universitätsgebäude und Wahrzeichen am zentralen Augustusplatz von Leipzig, phänomenal. Noch im kommunistischen Regime wurde für einen Trakt – natürlich mit Marx-Relief – die Universitätskirche St. Pauli abgerissen, die jetzt, ähnlich wie die Dresdner Frauenkirche, wieder aufgebaut werden soll. Erstaunlich waren die vielen alten Bürgerhäuser, die gänzlich heruntergekommen waren. Eine für mich völlig neue Erfahrung, ganze Straßenzüge als nackte, schäbige Gebäuderippen, Überreste ehemaliger großbürgerlicher, mit Stuck verzierten Häusern zu sehen. Die Eingangstüren waren aus den Angeln gehoben und längst verschwunden, anstelle derer gähnende Löcher Einblicke in das Dunkel der Stiegenhäuser gewährten, die zu Sperrmüllhalden verkamen. Altbauten waren im Kommunismus sich selbst überlassen, Plattenbauten wurden forciert. Die Mauern rochen feucht, der Schimmel kroch vom Keller langsam die Wände empor, verlassene, von Gras überwucherte Grundstücke breiteten sich mitten in der Stadt aus, manche von ihnen waren einsturzgefährdet und umzäunt. So manches Haus erweckte den Anschein, als sackte es jeden Moment in sich zusammen. Aber just jene Stadtlandschaft versetzte mich in unablässiges Staunen und Träumen. Die Häuser glichen monumentalen Trümmer-Skulpturen, die mit ihrer patinierten Aura eine große Leere weckten, die schön war und ein Spielplatz für die Fantasie. Nur wenig später war Leipzig mit Berlin die Stadt mit den meisten Baustellen. Baukräne prägten über Jahre das Stadtbild. Im zweiten Studienjahr machte ich die Bekanntschaft von Wladimir Dadon, einem russischen Bildhauer. Seine Tochter Nelja, die aus Moskau zum Studium nach Leipzig anreiste, wollte mich, eine Wessi, zuerst nicht kennenlernen, was ich seltsam fand. Die russischen Ressentiments gegenüber Wessis waren mir fremd. Bald aber waren wir beide eng befreundet, wir zogen gemeinsam in das Abbruchhaus in der Spittastraße 13, in dem ihre Familie und Freunde wohnten. In sechs von zwölf Wohnungen lebten wir, die übrigen Zimmer waren entweder Bildhauerwerkstatt oder Sperrmülllager. Schon zu DDR-Zeiten war das Haus von Studenten bewohnt. Wir bezahlten weder Miete noch Wasser, von der Müllabfuhr ganz zu schweigen – nur Strom und Telefon. Einmal im Jahr kam der Rauchfangkehrer und grüßte uns sehr freundlich. Die Stadt wusste von unserer illegalen Wohnsituation, ließ uns aber in Ruhe. Wir alle liebten dieses Haus, lebten aber immer in der Angst, hinausgeworfen zu werden oder dass plötzlich jemand mit Besitzansprüchen auftauchen könnte. Wir beruhigten uns mit der Legende über zwei Tanten, die in Amerika lebten, und die nichts mit unserem Haus anzufangen wussten. Eines Tages tauchte eine große Abrissbirne vor meinem Fenster auf – Was für ein Schock! –, demolierte aber das Hotel nebenan. Im Laufe der neunziger Jahre wurde die ganze Spittastraße in Lindenau renoviert, nur unser Haus nicht. Heute ist es ist nicht mehr zugänglich. Der Garten, in dem wir uns damals in der Zinkbadewanne gewaschen und russische Lieder gesungen haben, ist völlig überwuchert. Ich wagte es 2006 – zehn Jahre danach – nicht, die Haustüre, die damals nicht abzuschließen war, bei meinem letzten Besuch in Leipzig zu öffnen. Die Gehsteige wurden mit großen Steinplatten erneuert, Zeichen, so sagte man mir, für eine ehemals reiche Stadt. Die Handelsbörse und die Thomaskirche, in der Bach wirkte, waren längst renoviert. Für Leipzig flossen, gemeinsam mit Berlin, die meisten Gelder zur Renovierung ostdeutscher Städte. Baukräne waren keine mehr zu sehen, der große Bauboom war längst vorbei, saniert wurde schnell, oft zu schnell. Das Viertel um die ehemalige Baumwollfabrik, wo Neo Rauch schon damals sein Atelier hatte, wurde noch zu DDR-Zeiten zu einem regelrechten Kunstzentrum der Leipziger Schule, figurativer Malerei nach den Vertretern Tübke, Mattheuer und Heisig, ausgebaut. Heute sind die Hauptwerke von Rauch und Richter im neuen Museum der bildenden Künste zu bewundern. Lindenau, das Viertel, in dem sich die Spittastraße befindet, schien ausgestorben und trist, die Mauern waren unverändert feucht. Modergeruch und viele leerstehende Wohnungen: Viele hatten Leipzig verlassen oder sind weggezogen. Die großen Einkaufszentren wurden schon in den neunziger Jahren am Stadtrand gebaut. Der Würstelstand aber war noch da, wo man Bratwurst und Spreewälder Gurken für einen Euro kaufen konnte. Zur Behübschung Lindenaus hatte ein Künstler an einer Hauswand Tapeten mit riesigen Schlafzimmerlampen angebracht. Das alte, große Haus in der Spittastraße mit all seinen Gerüchen, seinem Stiegenhaus und all den verschiedenen Türen und dem Licht, das auf das bröckelnde Mauerwerk unter den unzähligen Tapetenschichten fiel, mit jeder war auch eine persönliche Geschichte verbunden. Ich erinnere mich lebhaft an den Winter mit den Kohlen im überschwemmten Keller, die Eisblumen am Fenster, das eingefrorene Klo und den alten, schönen Ofen als einzige Heizmöglichkeit, die eingerichtete Wohnung aus Sperrmüll, alten, zusammengetragenen Gegenständen aus einer anderen Zeit. Mit dem Samowar kochten wir Tee. Wir liebten diese Poesie der einfachen Dinge und die Freiheit, das ganze Haus zur Verfügung zu haben und so gestalten zu können, wie wir das wollten. Eine abenteuerliche Entdeckungsreise, und ein Überlebenstraining im Winter! Unser eigentliches Leben spielte sich in diesem Haus ab, selten gingen wir fort. Stattdessen kochten wir zusammen, tranken Tee und Wodka und unterhielten uns stundenlang. Manchmal sagte man über mich, ich käme ursprünglich aus Bayern und aus gutem Hause. Dann ließ man mich doch spüren, dass es uns Wessis viel besser ging. Mit der Wende war die soziale Sicherheit verschwunden, stattdessen berichteten Nachrichten von drastischen Arbeitslosenzahlen oder von „blühenden Landschaften“, wie Bundeskanzler Kohl Ostdeutschland 1990 in einer Rede bezeichnete. In diesen zweieinhalb Jahren lauschte ich weitaus mehr Russisch als Deutsch. Wir kamen gut miteinander aus. Der Unterschied zwischen Ost und West schien beinahe aufgehoben. Ich begriff, wie wichtig meinen russischen Freunden Literatur war. Zweimal hatte Nelja mich nach Moskau eingeladen. Ich hatte gelernt, mir die russische Technik anzueignen: zu improvisieren. Einfach etwas, das kaputt geht, nachzukaufen, war ein typisch westliches Phänomen. In der DDR, generell im Ostblock, lernte man, aus wenig viel zu machen. Und es gab zu meiner Zeit noch die Restposten von hochwertigen Produkten aus der DDR, beispielsweise Farben, die mehr als kostengünstig waren. Ein paradiesischer Zustand! Längst aber hielten westdeutsche Produkte Einzug, die anfangs mit größter Begeisterung aufgenommen wurden. Jens, der spätere Mann von Nelja, erzählte mir, dass der Anblick des
ersten aufgehäuften Berges Ritterschokolade, den er in einem Kaufhaus
gesehen hatte, einer Offenbarung glich, als er zum ersten Mal nach der
Grenzöffnung im Westen war. Bald aber wurde auch das zur Gewohnheit.
Heute sind nur noch wenige ostdeutsche Produkte am Markt. Damit ist ein
Teil dieser Identität verloren gegangen. Martin, der in der DDR
aufgewachsen war, aber alles andere als ein DDR-Anhänger, und schon
sehr lange im Haus wohnte, studierte Russisch und lebte ein Jahr in
Moskau, um so seine Sehnsucht nach Reisefreiheit stillen zu können, wie
viele andere auch. Immer wieder las er mit großer Hingabe aus Bulgakows
„Meister und Margarita“. Nie fragte ich ihn, ob er sich damals unrecht
behandelt gefühlt hatte. Einmal befragte ich ihn zur
Wiedervereinigung. Er war davon überzeugt, dass alles besser geworden
sei, nur seine Heimat verloren. |